
115 Tage, unversichert
Trotz Corona wird die deutsche Agrarindustrie in den kommenden Monaten weit über 100.000 Erntehelfer_innen aus dem Ausland, vor allem Osteuropa, beschäftigen – und zwar am liebsten ohne Sozialversicherung. Für die Saisonarbeiter_innen heißt das: Keine Kranken- und Arbeitslosenversicherung, keine Rente.
In corona-freien Jahren helfen in den deutschen Landwirtschaftsbetrieben im Durchschnitt rund 300.000 Saisonkräfte aus. Sie pflücken Erdbeeren, stechen Spargel oder ernten Kartoffeln. Für die ausländischen Helfer_innen machen die Betriebe sich meist eine Regelung zu Nutze, die eigentlich als Ausnahme für Schüler_innen und Studierende vorgesehen war. Diese können bis zu 70 Tagen als ‚kurzfristig Beschäftigte’ auf den Feldern eingesetzt werden, ohne dass Sozialabgaben anfallen. Zuletzt war dies aber fast flächendeckend auch auf die migrantischen Beschäftigten angewandt worden, obwohl die Ernte in Deutschland ihren Lebensunterhalt sichert. Lediglich eine private Krankenversicherung wurde für sie abgeschlossen. 2020 setzte die Agrarindustrie durch, dass die Frist sogar auf 115 Tage ausgeweitet wurde – angeblich, damit das Personal seltener ausgetauscht werden muss, was das Corona-Infektionsrisiko senke. Das wollen die Landwirte auch 2021 so halten dürfen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) lehnt dies bislang ab.
„Es ist zynisch zu behaupten, eine längere Beschäftigung ohne sozialen Schutz würde zu weniger Infektionen beitragen, weil die Helfer dann seltener getauscht werden müssen: Selbstverständlich können Menschen auch dann länger als 70 Tage bleiben und arbeiten, wenn sie von vornherein sozialversichert sind”, sagt dazu DGB Vorstand Anja Piel. „Erntearbeit ohne Sozialversicherung ist kein Naturgesetz, sondern Teil des Ausbeutungssystems der Arbeitgeber.” Die Bundesregierung dürfe keinesfalls vor Lobbyisten und Landwirtschaftsverbänden einknicken. Die Helfer_innen würden oft keiner weiteren Arbeit in ihrem Heimatland nachgehen, was Bedingung für die kurzfristige Beschäftigung wäre.
Stellungnahme des DGB: https://bit.ly/3eSiRuU
Informationsseite des DGB Projekts Faire Mobilität für ausländische Erntehelfer_innen auf Deutsch, Rumänisch, Ungarisch, Bosnisch, Polnisch, Bulgarisch: https://bit.ly/3bXgLbl