Soziale Absicherung: Plattformökonomie »Sie müssen die langfristige Perspektive mitbedenken«
17.03.2022 I Wirtschaftswissenschaftler Enzo Weber plädiert für eine Digital Social Security, kurz: DSS, für Beschäftigte der Plattform-Ökonomie, die derzeit zumeist als selbstständig gelten. Die bessere Absicherung sei auch im Sinne der Auftraggebenden, sagt er.
Nord | Süd news: Herr Weber, ob Lebensmittelkurier oder Crowdworkerin – eines der großen Probleme der Plattformökonomie ist, dass die Arbeiter_innen in der Regel nicht sozial abgesichert sind. Wie groß ist das Problem?
Enzo Weber: Das ist sehr unterschiedlich je nach Land und Art der Absicherung. Aber als Muster kann man sagen: Bei Krankenversicherungen sieht es in der Regel noch relativ gut aus, Renten liegt im mittleren Bereich, bei Arbeitslosen- und Unfallversicherung ist die Abdeckung niedrig. Global stehen viele Länder vor der gleichen Herausforderung: Die sozialen Sicherungssysteme beruhen auf den Strukturen, in denen der Betrieb der Dreh- und Angelpunkt der Arbeit war. Dementsprechend ließen sich Regulierungen an den Betrieb andocken. Mit der Plattformwirtschaft hat sich das verschoben. Denn es ist durchaus üblich, dass die Arbeiter_innen ständig andere Auftraggeber haben.
Wie groß ist die Zahl der Plattformarbeiter_innen?
Die Studien dazu sind mit einigen Unschärfen behaftet, aber was man sagen kann: In der EU dürfte Plattformarbeit für ein, zwei Prozent der Beschäftigten der Hauptjob sein. Das sind immerhin mehr Menschen, als in der Zeitarbeit tätig sind. Geht es darum, wer zumindest ab und zu über Plattformen vermittelte Jobs annimmt, kommt man auch in den niedrigen zweistelligen Bereich.
Sie schlagen eine Digital Social Security (DSS) für Plattformarbeiter_innen vor. Wie soll die aussehen?
Mein Vorschlag ist, dass wir das Konzept von sozialversicherungspflichtiger Arbeit digital auf die Plattformen übertragen. Wenn ein Job abgeschlossen ist, soll ein festgelegter Prozentsatz des Entgelts auf ein DSS-Konto fließen. Das soll für die Arbeiter_innen auch transparent sein. Es wäre dann auch egal, in welchem Land sich der Auftraggeber befindet, maßgeblich ist, zu welchem sozialen System der oder die Arbeitende gehört. Technisch wäre das auch effizient umzusetzen. Man bräuchte eine digitale Schnittstelle und dann könnten etwa unterschiedliche Beitragssätze je nach Land angepasst werden.
Das klingt sehr einfach – was sind die Hürden bei der Umsetzung?
Die erste ist die politische Entscheidung: Ja, wir möchten diese Menschen absichern. Im Normalfall gelten die derzeit als selbstständig, wobei viel vermutlich auch in der Grauzone zwischen selbstständig und abhängig beschäftigt stattfindet. Der zweite Schritt wäre die Umsetzung mit den Plattformen. Dabei sollte man klar machen, dass eine bessere Absicherung der Arbeiter_innen auch in ihrem Sinne wäre.
Warum sollte das im Sinne der Plattformen sein?
Auf dem derzeitigen Modell lassen sich kaum Karrieren oder auch nur langfristige Arbeitsverhältnisse aufbauen. Denn die Menschen werden, wann immer sich ihnen die Gelegenheit bietet, in ein Beschäftigungsverhältnis wechseln, was ihnen bessere Absicherung bietet. Wenn die Plattformen aber wollen, dass die über sie vermittelte Arbeit in einer guten Qualität geleistet wird, dann müssen sie die langfristige Perspektive mitbedenken. Das würde wiederum dazu beitragen, dass die Plattform für mehr Menschen attraktiv wird und sie den suchenden Unternehmen eine bessere Auswahl an potenziellen Arbeitskräften bieten könnten. Und dazu kommt natürlich, dass die Plattformen ihr Image verbessern würden – für sich selbst und für die über sie vermittelten Tätigkeiten.
Gibt es schon irgendwo entsprechende Ansätze?
In mehreren Ländern entwickeln sich Ansätze in diese Richtung. In Frankreich etwa, in Estland oder Indonesien.
Unabhängig von Plattformen kann Arbeit unterschiedlich stark formell reguliert sein. Wie kann eine DSS für alle funktionieren?
Der Ansatz zwingt nicht dazu, irgendetwas zu vereinheitlichen. Sondern es geht darum, eine technische Schnittstelle zu schaffen, die von jedem Land nach individueller Rechtslage genutzt werden kann. Das Geld wird zwar von den Plattformen gesammelt, aber jedes Land entscheidet selbst, welche Sozialversicherungszweige wie viel bekommen und wie hoch die Beitragssätze sind. Natürlich könnten auch einzelne Länder die Plattformen dazu verpflichten. Aber es international zu machen oder zumindest als Staatengemeinschaft wie die EU, hat Vorteile – zum Beispiel, was die Durchsetzbarkeit der Regeln angeht.
Würde eine Digital Social Security die Probleme von Plattformarbeit lösen?
Sicher nicht komplett. Plattformarbeit kann dann immer noch Ausbeutung enthalten. Aber neben einer besseren sozialen Absicherung für die Arbeiter_innen würde auch Schwarz- und Grauarbeit in dem Sektor sichtbar gemacht werden. Dementsprechend sind die Chancen gerade in Ländern, in denen der informelle Sektor sehr groß ist, wirklich bedeutend. Und Plattformarbeit hat definitiv auch Chancen, nicht nur Probleme.
Das Interview führte Svenja Bergt. Sie ist Journalistin in Berlin.
Enzo Weber ist Leiter des Forschungsbereichs »Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen« am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB, in Nürnberg und Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Regensburg.