Gewerkschaftsbewegung weltweit: Lateinamerika »Wir müssen auf die ganze Gesellschaft zugehen«
20.06.2022 I Nicht nur die Pandemie, auch autoritäre Regierungen und gesellschaftliche Veränderungen setzen die lateinamerikanischen Gewerkschaften unter Druck. Ihre Gegenstrategie: die Strukturen vor Ort und die Kooperation mit anderen Bewegungen stärken und so mehr Mitglieder gewinnen.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass Rafael Freire zusammen mit Gewerkschafter_innen aus aller Welt im Vorfeld des G7-Gipfels im deutschen Elmau Ende Juni den deutschen Kanzler Olaf Scholz traf. Ganz oben auf der Agenda stand der Krieg in der Ukraine.
»Natürlich verurteilen wir die russische Invasion«, betont Freire jetzt in seinem Büro im uruguayischen Montevideo, wo der gesamtamerikanische Gewerkschaftsdachverband CSA seine Zentrale hat und die Nord Süd News ihn telefonisch erreichen. Der grauhaarige, dynamisch auftretende Brasilianer ist seit dreieinhalb Jahren Generalsekretär. »Aber die Lösung kann nur über Verhandlungen gelingen, wer Frieden will, muss den Frieden vorbereiten«, sagt Freire und plädiert vehement für eine multilaterale Weltordnung. Besorgt zeigt er sich über die steigenden Getreidepreise, die Aufrüstungsspirale, die zwangsläufig auf Kosten des sozialen Ausgleichs gehe, über die Zunahme von Militärbasen sowie über den sogenannten Handelskrieg zwischen den USA und China, der sich nach Pandemie und Krieg verschärfen werde: »Die Globalisierung wird sich verändern, und neue Kriege werden vorbereitet. Stellen wir uns einmal vor, was man mit 100 Milliarden Euro gegen den Hunger oder für die Flüchtlinge erreichen könnte!«
Über die Forderung nach Just Transition – einem »gerechten Übergang« in der Klima- und Energiepolitik – seien sich die Teilnehmer_innen des Labour7-Treffens Anfang Mai einig gewesen. »Für uns hängt das Recht auf Entwicklung mit dem Erhalt und der Ausweitung unserer Souveränität zusammen«, stellt Freire klar. Um Arbeitsplätze zu schaffen und die Ernährungssouveränität zu erhalten, sei es wichtig, lokale und regionale Produktion zu stärken und dabei Umweltfragen nicht außer Acht zu lassen. Auch deswegen müsse das EU-Mercosur-Abkommen, das in der vorliegenden Form einseitig Konzerninteressen favorisiert, »völlig neu verhandelt werden«. Der CSA-Generalsekretär plädiert für ein »Abkommen wirtschaftlicher Zusammenarbeit« auf Augenhöhe.
»Es geht um die Demokratie.« Rafael Freire
In den zwei Jahren seit Beginn der Corona-Pandemie ist die Lage für die lateinamerikanischen Gewerkschaften nicht leichter geworden. Der Dachverband spricht im Namen von 55 Millionen Arbeiter_innen aus 21 Ländern. Von Brasilien über Ecuador, Kolumbien oder Haiti bis Guatemala hätten autoritäre Regierungen im Interesse der Firmen Gewerkschaftsrechte beschnitten, oft per Dekret, sagt Freire. Andererseits seien manche Debatten nun leichter zu führen: »Die Bedeutung öffentlicher Dienstleistungen, etwa im Gesundheits- und Bildungswesen oder im Rentensystemen, hat nun eine ganz andere Dimension bekommen. Wir brauchen einen starken Staat.«
Auf der jüngsten CSA-Strategiekonferenz in Panama ist deswegen eine »neue Etappe« eingeleitet worden. »Wir müssen wieder eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Wir wollen weniger, dafür stärkere Gewerkschaften, mehr Mitglieder, vor allem auch unter den prekär Beschäftigten, die organisiert werden müssen, am besten mit regulären Verträgen«, erklärt Freire. Dazu wolle man die Strukturen vor Ort stärken, »zum Beispiel mit Gewerkschaftshäusern, da, wo der Staat weitgehend abwesend ist und vor allem konservative Pfingstkirchen aktiv sind«. Wichtige Bündnispartner sollen dabei die organisierten Sektoren sein, in Brasilien etwa die Wohnungslosenbewegung MTST oder die Landlosenbewegung MST: »Warum sollen wir das Rad neu erfinden, wo es schon läuft?«
Eine große Herausforderung bleibe der Wandel in der Arbeiter_innenschaft: »Man hat die Arbeiter zu sogenannten Mitarbeitern der Firma gemacht oder zu Kleinunternehmern, vielerorts nimmt die Ausbeutung den Charakter moderner Sklaverei an«, fasst der Gewerkschafter zusammen: In 80 Prozent der Länder im Einzugsbereich werde die Gewerkschaftsarbeit behindert, noch öfter das Streikrecht ausgehebelt oder die Organisierung mit Entlassung beantwortet. Die CSA wolle daher wieder eine »Arbeiter_innen-Identität« herstellen. Ohne die »Klassenagenda« zu vernachlässigen, stellten sich die Gewerkschaften immer mehr der Bekämpfung des Rassismus oder des Sexismus, auch den Anliegen der LGBTI+, sagt Freire. »Wir müssen über unsere traditionellen Themen hinaus- und auf die ganze Gesellschaft zugehen, Interessen und Identitäten zusammendenken.«
In Brasilien hat der charismatische Ex-Präsident und Ex-Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva sehr gute Chancen, im Herbst den Rechtsextremisten Jair Bolsonaro abzulösen. Doch die Rahmenbedingungen haben sich seit 2003, als Lula seine erste Amtszeit antrat, drastisch verschlechtert. »Bei den Kämpfen der nächsten Jahre wird die Zusammenarbeit mit Abgeordneten, Parteien, staatlichen Instanzen wieder wichtiger«, meint Rafael Freire, »kurz, es geht um die Demokratie«.
Der Autor: Günther Michahelles ist Journalist und lebt seit vielen Jahren in Lateinamerika, aktuell in Buenos Aires
Zur Vertiefung: Lateinamerikanische Gewerkschaften: Mit dem Rücken zur Wand