Überblick: Kampf um Vielfalt und Integration
1.9.2022 I Wenn Beschäftigte aus welchen Gründen auch immer diskriminiert werden, behindert das auch die Entwicklung von Gemeinwesen und Unternehmen. Regularien gibt es weltweit. Das Problem ist ihre Anwendung.
Weltweit fühlt sich jede vierte Person an ihrem Arbeitsplatz nicht wertgeschätzt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über Diversity und Inklusion. Mit den Daten von 12.000 Beschäftigten aus 75 Ländern in fünf Regionen ist sie eine der weltweit umfassendsten Studien zum Thema.
Dass es für Beschäftigte selbst dramatisch ist, wenn sie etwa aufgrund von Geschlecht, äußeren Merkmalen oder sexueller Orientierung als Person missachtet werden, ist offensichtlich. Aber auch für das jeweilige Gemeinwesen und Unternehmen ist dieser Befund alarmierend. Und das nicht nur aus ethischen Gründen, sondern auch weil Vielfalt und das Gefühl der Zugehörigkeit wichtig sind für Produktivität, Kreativität und Innovation in Unternehmen und Verwaltungen. Manuela Tomei, Direktorin der ILO-Hauptabteilung Arbeitsbedingungen und Gleichstellung, beschreibt Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion als Treiber für die Erholung von Wirtschaft und Gesellschaft nach der Corona-Krise und für ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen generell.
Diskriminierung und Ausgrenzung im Arbeitsleben sind international zwar seit Jahrzehnten geächtet, aber immer noch so gut wie überall Realität. Die ILO hat für ihre Studie Gruppen in den Blick genommen, die davon bedroht oder betroffen sind – mal geht es um ihr Alter, ihr Geschlecht, ihre sexuelle Orientierung oder eine HIV-Infektion, mal werden sie Zielscheibe von Rassismus oder religiöser Diskriminierung. Manchmal gibt es auch mehrere Hintergründe.
Das Verbot von Diskriminierung ist eines der fünf Grundprinzipien der ILO. Bereits 1953 trat das Übereinkommen 100 in Kraft, das gleichen Lohn für gleiche Arbeit für Männer und Frauen fordert. 1960 folgte Übereinkommen 111, das Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf verbietet. Es gehört zu den acht Kernarbeitsnormen. Damit hat es den Rang von Menschenrechten und gilt auch für Länder, die es nicht ratifiziert haben. Und davon gibt es einige: Mehr als 170 Länder haben es zwar bestätigt, die USA und Japan zum Beispiel aber nicht.
Gleichzeitig gelten die USA als Ursprungsland von Strategien, die Vielfalt herstellen und Integration gewährleisten sollen. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung kämpften Minderheiten dort gegen Ausgrenzung und für Chancengleichheit. Unternehmen fürchteten, nicht mehr genügend Arbeitskräfte rekrutieren zu können. Das bereitete dem sogenannten Diversity-Management in Unternehmen den Weg. Dieses sieht beispielsweise vor, bei der Rekrutierung von Personal bewusst auf Antidiskriminierung zu setzen.
In vielen Ländern sollen auch Gesetze für Gleichstellung und Gleichberechtigung sorgen. In der Europäischen Union verbietet die Gleichstellungsrichtlinie Diskriminierung. In Deutschland wurde sie 2006 mit dem Allgemeinen Gleichheitsgesetz umgesetzt. Es sieht etwa vor, dass Stellenausschreibungen geschlechtsneutral formuliert sein müssen. Unternehmen müssen Ansprechpartner_innen benennen, an die sich Beschäftigte wenden können, wenn sie bemerken, dass gegen das Gesetz verstoßen wird. Das Gesetz nimmt dabei ausdrücklich neben den Beschäftigten und Unternehmen auch Arbeitnehmervertreter_innen in die Pflicht, »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen«. Betriebs- oder Personalräte können das etwa in Betriebs- und Dienstvereinbarungen umsetzen, zum Beispiel indem sie darin Schulungen vereinbaren oder die Finanzierung von Coachings und Fortbildungsmaßnahmen. Das Gesetz räumt Betriebsräten und Gewerkschaften außerdem die Möglichkeit ein, gegen grobe Verstöße gerichtlich vorzugehen.
Doch vielerorts ist es für Beschäftigte und ihre Vertreter_innen schwer, Diversity einzufordern, weil Arbeitnehmer_innen dort grundsätzlich daran gehindert werden, sich zu organisieren und brutal zum Schweigen gebracht werden, wenn sie für ihre Rechte kämpfen. Laut dem Globalen Rechtsindex 2022 des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) verweigern 113 von 148 Ländern Beschäftigten das Recht auf die Gründung oder den Beitritt zu einer Gewerkschaft. In 129 von 148 Ländern werden Streiks erheblich eingeschränkt oder verboten. Die Autor_innen des Globalen Rechtsindex sprechen von einer Demokratiekrise mit einer systematischen Demontage von Rechten. Die Zahl der Länder mit Angriffen auf die Rede- und Versammlungsfreiheit stieg von 26 im Jahr 2014 auf 41 im Jahr 2022.
Zwar ist Diversity kein eigener Punkt im Globalen Rechtsindex. Aber die Kategorie »Recht auf Gerechtigkeit« gibt Hinweise auf die Möglichkeit, Teilhabe ein- und Ausgrenzung anzuklagen – was häufig nicht gegeben ist. In 66 Prozent der Länder wird Beschäftigten das Recht auf Gerechtigkeit vorenthalten, indem ihnen der Zugang zur Justiz ganz oder teilweise verwehrt wird. Das erschwert den Kampf für Vielfalt und Integration extrem. »Unser Wirtschaftsmodell hat einen Wettlauf nach unten eingeläutet, bei dem Menschenrechte und Umweltstandards außer Acht gelassen werden«, sagt ILO-Generalsekretärin Sharan Burrow. Auch um Gleichstellung und Inklusion herzustellen, brauche es einen neuen Sozialvertrag, sagt sie.
Die ILO-Studie zu Diversität kommt zu dem Ergebnis, dass Unternehmen zu wenig tun, um Minderheiten zu fördern. Die Hälfte der Befragten ist der Ansicht, dass Vielfalt in ihrem Unternehmen nicht ausreichend berücksichtigt wird. Für Frauen, Menschen mit Handicap und Angehörige von Minderheiten ist es in Unternehmen besonders schwer aufzusteigen. Die Stellung in der Hierarchie ist ein wichtiger Faktor für das Zugehörigkeitsgefühl. 92 Prozent der Führungskräfte gaben an, sich gut einbezogen zu fühlen, aber nur 76 Prozent der Beschäftigten ohne Führungsaufgabe.
Um für Vielfalt zu sorgen, müssen Unternehmen der ILO-Studie zufolge vier Leitlinien folgen, die weltweit und auf alle Beschäftigtengruppen bezogen angewendet werden können. Danach sollte Diversity Bestandteil der Unternehmenskultur, das Top-Management divers aufgestellt sein. Außerdem sollten Führungskräfte und Mitarbeiter_innen im Alltagshandeln Vorbilder sein. Zudem müssen Diversity-Maßnahmen über den gesamten Beschäftigungszyklus gelten. Dazu gehört etwa, Ziele für die Gewinnung von Beschäftigten mit Minderheitenhintergrund festzulegen und Gründe für Beförderungen transparent zu machen.
Autorin: Anja Krüger ist Journalistin und lebt in Berlin
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